Georg Crossmann (Baumeister), Ernst Crossmann (Bildhauer), Erker der Ratsapotheke am Rathaus von Lemgo, 1612
Sein außergewöhnliches Bildprogramm hebt den Erker der Ratsapotheke von Lemgo aus der Menge vergleichbarer Bauwerke hervor. Der umlaufende Fries mit den Bildnissen berühmter Naturforscher, Alchemisten und Ärzte seit der Antike ist einzigartig. Porträts von Alchemisten erschienen oft in Handschriften und Druckwerken, deren Autoren und Leser sich nicht selten in arkanen Zirkeln bewegten und jene Bilder wohl meist im Verborgenen betrachteten. Hier aber traten sie öffentlich an einem städtischen Bauwerk auf.
Die Bildnisse entstanden nach Vorlagen zeitgenössischer Druckgraphik. Hermes Trismegistos, Raimundus Lullius, Geber Arabs und Paracelsus folgen dem von Aegidius Sadeler gestochenen Titelbatt in Oswald Crolls Basilica Chymica, Frankfurt a.M. 1609.[1]Borggrefe, Heiner, Der Renaissanceerker der Ratsapotheke von Lemgo, Lemgo 2012, S. 83-87. Andreas Libavius‘ Alchymia (Frankfurt a.M. 1606) diente als Vorlage für den Aristoteles (Abb.). Pedanios Dioskurides folgt einem Porträt des Leonard Fuchs (Abb.>). Dieses entstammt der von Jean Jacques Boissard (1528-1602) begründeten Bibliotheca chalcographica, die Theodor de Bry ab 1597 in Frankfurt herausgab. Die in der gedruckten Sammlung gezeigten Gelehrtenporträts werden häufig von rundbogigen Architekturelementen gerahmt – eine Darstellungsweise, die man vermutlich auch als Vorbild für die Anordnung der Lemgoer Bildnisse in den Ädikuläen nutzte.
Lebensdaten | Themenfeld | |
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Pedanios Dioskurides | 1. Jh. | Heilmittelkunde |
Aristoteles | 384-322 v. Chr. | Philosophie, Naturkunde |
Rhases | um 860-930 | Medizin, Alchemie |
Galen | um 130-um 200 | Medizin |
Hippokrates | 460-370 v. Chr. | Medizin |
Hermes Trismegistos | fiktiver Autor des 2.-4. Jhs. | Philosophie, legendarischer Begründer der Alchemie |
Raimundus Lullius | 1232-1316 | Alchemie |
Geber Arabs | um 721-um 815 | Alchemie |
Andreas Vesalius | 1514-1564 | Anatomie |
Paracelsus | 1493-1541 | Chemiatrie (Iatrochemie) |
Die Abfolge des Frieses ist nicht chronologisch. Aber er endet mit den Zeitgenossen Vesalius und Paracelsus (Abb.). Die beiden damals umstrittenen Autoren repräsentieren den modernsten Stand heilkundlicher Forschung um 1600. Für dessen historische Entwicklung stehen dagegen die übrigen acht (Abb.). Dabei geht es nicht um praktische Aspekte der Heilkunde, für die Rhases als Erfinder der alkoholischen Destillation oder Galen als Referenz für die Wundarznei stehen könnten. Vielmehr belegen die Präsenz des Aristoteles und des Hermes Trismegistos, dass das Lemgoer Bildprogramm auf den weltanschaulichen Überbau von Heilkunde und Alchemie abzielte.
Paracelsus und Vesalius begehrten auf gegen die seit der Antike tradierten Autoritäten der Heilkunde. Vesalius opponierte gegen Galen, der die anatomische Ausbildung auf das Sezieren von Tierleichen beschränkt hatte. Öffentlich sezierte er menschliche Leichen. Eine ähnliche Reizfigur war Paracelsus. Er verurteilte die auf Hippokrates und Galen gründende Humoralpathologie. Dieses altehrwürdige Lehrgebäude der Heilkunst ging davon aus, dass in einem gesunden Körper vier Säfte im Einklang stünden. Krankheiten beruhten danach auf einer Störung des Gleichgewichts der Säfte. Ihre Vierzahl stützte sich auf Aristoteles‘ Lehre von den Vier Elementen (Feuer, Luft, Wasser und Erde) als Basis physischen Seins. So tritt Aristoteles im Lemgoer Fries als Urvater philosophischer Naturerkenntnis auf, die das mythische Denken seit der Antike nachhaltig prägte. Dioskurides dagegen galt als maßgebliche Autorität der Heilmittelkunde (Abb.).
Paracelsus hinterfragte den hippokratischen Mainstream, indem er die mythologische aristotelische Elementenlehre durch ein spekulatives chemiatrisches Modell ersetzte. Er berief sich auf die Tabula Smaragdina des fiktiven Hermes Trismegistos. Der menschliche Körper sei ein durch drei chemische Elemente (Schwefel, Quecksilber und Salz) definierter Mikrokosmos, welcher den Makrokosmos, das All, repräsentiere, so Paracelsus. Als Begründer der Iatrochemie entmythisierte er die europäische Heilkunde von der antiken Elementenlehre und lenkte somit die Aufmerksamkeit wegweisend auf chemische Prozesse.
Die Auftraggeber des Lemgoer Frieses vertraten die gegen den hippokratischen Mainstream gerichtete Lehre des Paracelsus. Am Bildnis des Hermes Trismegistos bekräftigt eine Inschrift nach der Tabula Smaragdina den Zusammenhang von Makro- und Mikrokosmos: QVOD EST / SVPERIVS / EST SICVT / ID QVOD / EST INFER/IVS (Was höher ist, ist gleich dem, was niedriger ist) (zu den Inschriften>).[2]Hans Fuhrmann, Kristine Weber, Sabine Wehking, Eintrag Lemgo, Rathaus, Apothekenauslucht, Nr. 176, in: Deutsche Inschriften Nordrhein-Westfalen/Lemgo, 2004 (www.inschriften.net). In dem als Vorlage dienenden Bildnis des Paracelsus aus Crolls Basilica Chymica, erscheinen Sonne und Mond als Sinnbilder von Schwefel und Quecksilber über den aristotelischen Elementen Erde und Wasser. Am Fries hat der Bildhauer Ernst Crossmann (um 1585-1622) diese Symbolik nochmals zugespitzt, auf den Triumph der chemischen Substanz Schwefel (Sonne) über das mythische Element Erde (Abb.).[3]Borggrefe 2012, S. 87. – Zu den künstlerischen Urhebern des Apothekenerkers siehe auch Borggrefe, Heiner, Georg und Ernst Crossmann. Eine Baumeister-/Bildhauerfamilie und die Lemgoer Rebellion von … weiterlesen
Die Darstellung von Vesalius und Paracelsus an einem öffentlichen Gebäude wie dem Lemgoer Rathaus war 1612 ein gewagter Akt. Es ist daher verständlich, dass sie durch eine umlaufende Inschrift an der Fassade christlich kontextualisiert wurde.[4]Krafft 1999. Anlass für den aufsehenerregenden Bildschmuck des Apothekenerkers war ein erbitterter Streit des lutherischen Lemgo mit seinem Landesherrn, Graf Simon VI. zur Lippe (1554-1613). Am Hofe Kaiser Rudolfs II. in Prag bekleidete Simon die Stellung eines Kammerherrn, Reichshofrates und hochrangigen Diplomaten. Er war umfassend gebildet, hatte in Straßburg studiert, besaß eine beeindruckende Bibliothek und bekannte sich zur Lehre Jean Calvins. Simon hatte eine Zeit am Kasseler Hof verbracht, einer führenden Stätte naturwissenschaftlicher Forschung in Europa. Er verkehrte mit Landgraf Moritz von Hessen-Kassel (1572-1632), der die chemiatrische Forschung förderte und dafür 1609 an der Universität Marburg eine Professur schuf.[5]Akat. Moritz der Gelehrte 1997, S. 363.
Simons Versuch, das lutherische Lemgo zur Annahme der zweiten Reformation zu bewegen, scheiterte am heftigen Widerstand der Stadt. Im Verlauf eines gewaltsamen Aufstandes (1609) entschloss sich der Rat zum Bau des prunkvollen Erkers als provokativer Geste des Trotzes.[6]Borggrefe 2012, S. 73-75. Offenbar suchte man dem ungeliebten Landesherrn mit den Bildnissen zu veranschaulichen, dass man seinem wissenschaftlichen Niveau auf Augenhöhe entgegenzutreten vermochte. Konzipiert wurde das Bildprogramm des Erkers durch den gebildeten Lemgoer Ratsapotheker Wolrad Ferber (1577-1633) und den Rektor der örtlichen Lateinschule Johannes Gisenius (1577-1658).[7]Ebd., S. 71, 91. – Deutsche Inschriften Online, DI 59, Lemgo, Nr. 206 (Hans Fuhrmann, Kristine Weber, Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di059d006K0020609. Ihre individuellen Gesichtzüge überlagern wohl die Bildnisse des Dioskurides und des Rhases (Abb. / Abb.).
Heiner Borggrefe (2021)
Literatur
Meier, Karl, Die graphischen Vorlagen des Meisters der Halbfiguren am Lemgoer Ratsapothekenerker, in: MLG 32, 1963, S. 182-188; Muntschick, Wolfgang, Die alchemistischen Symbole des Naturforscherfrieses an der Ratsapotheke in Lemgo, in: LH 2, 1979, H. 7, S. 28-34; Akat. Moritz der Gelehrte 1997, S. 363; Krafft 1999; Hans Fuhrmann, Kristine Weber, Sabine Wehking, Eintrag Lemgo, Rathaus, Apothekenauslucht, Nr. 176, in: Deutsche Inschriften Nordrhein-Westfalen/Lemgo, 2004 (www.inschriften.net); Krafft, Fritz, Apothekenerker von Lemgo: Künstlerisches Zeugnis für ein Reformprogramm der Pharmazie, in: Pharmazeutische Zeitung 147, 28, S. 44-49; Krafft, Fritz, Das weitverbreitete Andachtsbild „Christus als Apotheker“. Eine aus Schlesien initiierte Visualisierung der „Theologia medicinalis“, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 50, 2009, S. 215-260; Borggrefe, Heiner, Der Renaissanceerker der Ratsapotheke von Lemgo, Weserrenaissance-Museum Schloss Brake 2012; Ders., Der Apothekenerker wird 400. – Ein Kulturzeugnis von europäischem Rang, in: Heimatland Lippe, Mai/Juni 2012, S. 164-165; Ders., Georg und Ernst Crossmann. Eine Baumeister-/Bildhauerfamilie und die Lemgoer Rebellion von 1609, in: Heimatland Lippe, August 2013, S. 198-199
Endnoten
↑1 | Borggrefe, Heiner, Der Renaissanceerker der Ratsapotheke von Lemgo, Lemgo 2012, S. 83-87. |
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↑2 | Hans Fuhrmann, Kristine Weber, Sabine Wehking, Eintrag Lemgo, Rathaus, Apothekenauslucht, Nr. 176, in: Deutsche Inschriften Nordrhein-Westfalen/Lemgo, 2004 (www.inschriften.net). |
↑3 | Borggrefe 2012, S. 87. – Zu den künstlerischen Urhebern des Apothekenerkers siehe auch Borggrefe, Heiner, Georg und Ernst Crossmann. Eine Baumeister-/Bildhauerfamilie und die Lemgoer Rebellion von 1609, in: Heimatland Lippe, August 2013, S. 198-199, URL: https://digitale-sammlungen.llb-detmold.de/periodical/pageview/7451584. |
↑4 | Krafft 1999. |
↑5 | Akat. Moritz der Gelehrte 1997, S. 363. |
↑6 | Borggrefe 2012, S. 73-75. |
↑7 | Ebd., S. 71, 91. – Deutsche Inschriften Online, DI 59, Lemgo, Nr. 206 (Hans Fuhrmann, Kristine Weber, Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di059d006K0020609. |