Das Einhorn und die Alchemie

Matthäus Merian d.Ä., Hirsch und Einhorn, Emblem III, in: Lambspring. Das ist: Ein herzlicher Teutscher Tractat vom Philosophischen Steine, in: Johannes Rhenanus (Hermannus Condeesyanus) (Hg.), Dyas chymica tripartita, Frankfurt: Lucas Jennis 1625, S. 93, UB Frankfurt, Sign. 8° P 194.6015

Nebst omnipräsenten Pelikan und Feuersalamander mag das Einhorn lediglich eine marginale Rolle im allegorischen Kanon der Alchemica illustrata, insbesondere in der ‚Menagerie der alchemischen Tiere‘ einnehmen. Umso spannender ist es jedoch, das Unicornis genauer nach seiner ikonographischen Signifikanz zu befragen. Nicht zuletzt, da die Forschung zu diesem Thema noch in den Kinderschuhen steckt.[1]Vgl. Schliephake 2023. Ein kurzer Überblick bereits Helas 2015, S. 101f. Allgemein zu den Tieren in der Alchemie mit Beispielen zum Einhorn vgl. zuletzt Gannon 2024.

In der Pictura vom Emblem III des Buch Lambspring trifft ein neugieriger Hirsch im Wald auf das sagenumwobene weiße Ross mit einem Horn. Wie schon das Epigramm andeutet, befinden sich hier Anima (die Seele) und Spiritus (der Geist), jeweils personifiziert durch Hirsch und Einhorn, in einem Corpus (dem Körper), welcher durch den Wald als Handlungsort symbolisiert wird. Dem zugehörigen Gedicht zufolge ist es nun die Aufgabe des Alchemisten Anima und Spiritus zu verschmelzen und vom Corpus zu trennen.[2]Vgl. Lambspring. Das ist: Ein herzlicher Teutscher Tractat vom Philosophischen Steine, in: Johannes Rhenanus (Hermannus Condeesyanus) (Hg.), Dyas chymica tripartita, Frankfurt: Lucas Jennis 1625, S. … weiterlesen

Wenngleich keine alchemischen Stoffe oder Prozesse beim Namen genannt werden, ist der offenkundige Fingerzeig auf die Trinität von Körper, Geist und Seele hierbei Aufschluss gebend. Andere Werke, wie beispielsweise die Arcani artificiosissimi aperta arca, sehen die Trinität in Analogie zu der sogenannten tria principia.[3]Vgl. Lehnert 2023, S. 14>. Dieser zufolge werden alle komplexen Stoffe anhand von drei Prinzipien konstituiert, welche einem jeweiligen chymischen Grundstoff entsprechen. Schwefel steht dabei für das brennbare, Quecksilber für das flüchtig-flüssige und Salz für das feste, formgebende, stabile Prinzip.[4]Vgl. Ohlenschläger, Fabian: Annotationen zu Matthäus Merian d.Ä., Alchemische Weltlandschaft>.

Im Hinblick auf die Pictura des Emblem III ist der Wald somit dem Salz, der Hirsch dem Schwefel und das Einhorn schließlich dem Quecksilber zuzuordnen. Wo es aber noch grundlegend schlüssig erscheint, dem Wald als umgebende Szenerie die Rolle des Formgebenden zuzusprechen, bedarf es weiterführender Suche nach der primordialen Verbindung zwischen Quecksilber und Einhorn.

Dies betreffend ist zunächst festzustellen, dass das Einhorn ursprünglich weder als ein Schimmel mit Horn, noch als rein imaginäres Wesen wahrgenommen wurde. Erzählungen über das sagenumwobene Tier reichen zurück bis in das 4. vorchristliche Jahrhundert, als der Grieche Ktesias von Knidos die sogenannte Indika verfasste. Derartige mutmaßliche Erfahrungsberichte stilisierten das Gebiet des indischen Subkontinentes, welches dem damaligen Abendland noch weitestgehend unbekannt war, als eine Quelle verschiedener Wunder.[5]Vgl. Einhorn 1998, S. 55.

Entsprechend mittelalterlicher Überlieferung soll diese wunderbare Terra incognita Heimat eines Geschöpfes gewesen sein, welches zunächst einem Esel glich, jedoch einen weißen Körper mit purpurfarbenem Kopf, tiefblaue Augen, sowie ein einzelnes Horn besaß. Das Horn, so die Vorstellung, war am Ansatz hell, mittig schwarz und lief schließlich in einem tiefen Zinnoberrot aus. Umgewandelt in ein Trinkgefäß, sprach man dem Horn eine wunderheilende Wirkung zu. Zugleich stellte sich die Jagd auf das Tier als äußerst schwer heraus, denn das Einhorn galt als flink und kaum zu fangen. Nur im Beisein der eigenen Fohlen würde es den Kampf aufnehmen und ausgesprochen aggressiv, vor allem mit seinem Horn, gegen seine Angreifer vorgehen. Diese Begegnung endete demzufolge für viele mit dem sicheren Tod.[6]Vgl. Tagliatesta 2007, S. 178. Ähnliche Berichte weiterer Autoren mögen ein stets changierendes Äußeres des Einhorns zeichnen, dem angedichteten Temperament des wilden Einhorns blieben sie jedoch zumeist treu.[7]Im Besonderen ist hier das Monokeros von Megasthenes (um 300 v. Chr.) zu nennen. Vgl. Einhorn 1998, S. 56f. Nach aktueller Sicht gilt es heute gleichwohl als sicher, dass indische Panzernashörner als realer Ursprung für den Mythos des Einhorns anzusehen sind.[8]Vgl. ebd.

Es ist die Vereinigung von scheinbaren Widersprüchen in einem einzigen Wesen, welche den frühen Typus des Einhorns konstituiert; ein scheues, schnellläufiges Wesen mit lebensspendendem Horn einerseits und aggressive, mitunter totbringende Bestie andererseits. Die Analogie zum schwerlich greifbaren, flüssigen Quecksilber erscheint treffend. Weiter verdichtet wird Zuordnung im weiteren Verlauf der Überlieferungen zum Einhorn, als dasselbe aus dem profanen Kontext herausgehoben wurde und an religiösen Qualtäten gewann. Wie schon zuvor sind es auch hier vor allem einzelne Missinterpretationen und entsprechende Änderungen in der stetig fortschreitenden Tradierung von verbalen und textbasierten Äußerungen, welche zur Legendenbildung beitrugen.

Prägnant sind hierbei insbesondere Analogien, die ihren Ursprung im hebräischen Tanach haben, der originalen Fassung des Alten Testaments. Etwa wird beispielsweise im Numeri 23, 22 von Gott gesprochen, dessen Macht ähnlich der eines sog. Rem (ראם) sei. Das hebräische Rem, was frei übersetzt einer Oryxantilope oder Stier entsprechen kann, wurde in der griechischen Septuaginta zu einem Monoceros, in der lateinischen Vulgata zum Rhinoseros, beziehungsweise Unicornus.Martin Luther übersetzte dies 1534 schließlich mit dem Begriff ‚Einhorn‘. Folglich wurde das Einhorn zu einer Personifikation des Göttlichen; entsprechend weiterer Bibelverse, wie zum Beispiel Psalm 88, 18, dabei figurierte vor allem das einzelne Horn als Machtsymbol.[9]Vgl. Schönberger Physiologus. Griechisch/Deutsch 2001, S. 117.

Im Zuge der christlichen Typologie wurden schließlich Wesenszüge Jesu Christi mit jenen des Einhorns gleichgesetzt. Besonders offenkundig wird diese Synthese von Mythos und Christentum im sogenannten Physiologus (cirka 2.-4. Jhd.n.Chr.) kommuniziert, welcher ähnlich der Indika einige Tiere und Pflanzen aus fernen Landen portraitiert, diese jedoch zugleich mit christologischen Assoziationen bewertet. Hier wird das Einhorn als Sinnbild des Erlösers gedeutet, in physischer Form eines kleinen Böckleins mit einem einzelnen Horn, welches behende und von nahezu niemanden zu fangen ist. Bis auf die bescheidene Größe gleicht es somit frappierend den geläufigen Beschreibungen des Einhorns; sanft und gleichermaßen mächtig.[10]Vgl. ebd., S. 39.

In seiner Ausführung der Pictura vom Emblem III des Buch Lambspring fokussiert sich Matthäus Merian d.Ä. augenscheinlich überwiegend auf den besonnenen, neugierigen Charakter des Einhorns. Im Vergleich zu früheren Fassungen des Buch Lambspring aus dem 16. Jahrhundert, offenbart sich jedoch eine umfassendere Gemütspalette, die sich auch im äußeren  Erscheinungsbild des Fabelwesens äußert. In einem Exemplar des Buch Lambspring von 1556 ruht es gar ehrerbietig zu den Läufen des Hirsches (Abb.>). In einer späteren Fassung von 1579 steht das Einhorn dem Hirsch zwar mit geringerer Größe, aber mit einer äußerst aggressiven Körpersprache gegenüber (Abb.>). Es ist also zu auszumachen, dass sich der ambivalente Charakter des Einhorns gleichermaßen in variierenden Verbildlichungen wiederfindet.

Ein erneuter Blick auf den Physiologus verrät, dass dieser neben äußeren Merkmalen, der Legende zudem eine symbolisch aufgeladene, fortan tradierte Jagdmethode hinzufügen kann: Eine reine, schön gekleidete Jungfrau könne sich dem Tier gefahrlos nähern, auf dass sich dieses ruhig in ihren Schoss setzt.(Vgl. ebd.)) Die Parallelen zur Annahme einer reinen Empfängnis der Jungfrau Maria sind unverkennbar. Auf diese Weise wird die Reinheit, im Kontrast zu einer kaum zu fassenden Wildheit, zum maßgeblichen Spezifikum des Einhorns, was schließlich auch dessen omnipräsente Verkörperung als würdevolles, reinweißes Wesen in der Gestalt eines Pferdes begünstigte.

Auch in der Bildsprache der Alchemie wird das Einhorn – wenn auch nur stellenweise – mit dem reinen, jungfräulich Weiblichen in Verbindung gebracht. So beispielsweise im komplexen Systemblatt der Occulta philosophia (1613) (Abb.>),  sowie in Abwandlung im chymischen Baum der Vier Tractätlein des Fraters Basilius Valentinus (Abb.>).[11]Vgl. Occulta Philosophia, Von den verborgenen Philosophischen Geheimnussen der heimlichen Goldblumen/ und Lapidis Philosophorum, was derselbige: und wie zu Erlangung dessen zu procediren/ … weiterlesen Hier ist das weiße Einhorn ruhend vor einem Rosenstrauch zu sehen. Die Allegorie bezeichnet den Übergang von Fermentation zur Destillation, die sogenannte Solutio und ist kurz vor dem Erreichen des Opus magnum verortet. Der Rosenstrauch steht stellvertretend für die zunächst rote Tinktur, welche schließlich vom Alchemisten zur vollkommenden Weißung, der Albedo, gebracht wird.[12]est autem Fermentatio animantis incorporatio […] est duplex, scilicet alba et rubea. (‚Darüber hinaus ist die Fermentation eine Aufnahme des lebenden Geistes […] sie geschieht … weiterlesen Da dieses kleine Werk auch als Weiberwerk bezeichnet wurde, ist schließlich das weiße Einhorn ein Symbol für die Annahme eines beruhigenden, weiblichen Eingreifens. Darüber hinaus ist den Systemblättern eine Nähe des Einhorns zur weiblichen Luna (☾) und schließlich auch wieder dem sophischen Quecksilber (☿) zu entnehmen, was erneut dem ikonographischen Bild des Physiologus entspricht.

Was den Glauben an das Einhorn abseits der Alchemie betrifft, persistierte die primär religiöse Lesart der Legende noch bis ins Mittelalter hinein, bis diese schließlich 1563 im Zuge des Tridentinischen Konzils offiziell verboten wurde. Ungeachtet dessen verschoben sich aber ohnehin allmählich die Gründe für das Interesse am Einhorn. Im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts begann die Idee einer allumfassenden Taxonomie von Flora und Fauna Form anzunehmen und es stellte sich die Frage, ob das Einhorn nicht wirklich gefunden werden könne.[13]Vgl. Cherry 1997, S. 92.

So bildete sich schließlich nicht nur ein breiter Markt an Bestiarien heraus, in denen ganz in Tradition des Ktesias, von einem persönlichen Zusammentreffen mit dem legendären Tier berichtet wurde; nebst reichen Illustrationen der gesichteten Exemplare.[14]So bspw. Gessner, Conrad, Historiæ animalium, Zürich 1551 oder Laurent Catelan, Histoire de la nature, chasse, vertus, propriétez et usage de la lycorne, Montpellier 1624. Die deutsche … weiterlesen Es waren aber zudem auch ‚echte’ Hörner des Einhorns im Umlauf, die besonders in Adelskreisen Sammler und Abnehmer fanden. Vorrangiges Interesse galt jedoch nicht unbedingt dem erhofften Schutz vor potenziellen Giftanschlägen, sondern vor allem dem Prestige. Prominente Vertreter, wie Kaiser Rudolf II. in Prag, machten das Horn zu einem Prunkstück fürstlicher Kunst- und Wunderkammern.[15]Vgl. Morrall 2018. Gleichwohl parallel ebenso skeptische Stimmen, wie die des dänischen Arztes Ole Worm, immer lauter wurden und damit begannen vor allem die langen, gewundenen Hörner als die markanten Zähne von Narwalen zu enttarnen.[16]Vgl. Helas 2015, S. 97; Morrall S. 27f. Doch auch wenn das Einhorn infolgedessen sukzessive Eingang in den Kanon reiner Märchen und Legenden fand, ist es nicht zuletzt dessen Macht als mystisches Symbol, welches bis heute bleibt.

Kristofer Schliephake (2024)


Literatur

Cherry, John (Hg.), Fabeltiere. Von Drachen, Einhörnern und anderen mythischen Wesen, Stuttgart 1997; Schönberger, Otto, Physiologus. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2001; Tagliatesta, Francesca, Iconography of the Unicorn from India to the Italian Middle Ages, in: East and West, Vol. 57, No. 1/4 (2007), S. 178; Einhorn, Jürgen Werinhard, Spiritalis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters, 2. Aufl., München 1998; Helas, Philine, Das Einhorn. gefürchtet, gejagt, gezähmt und zerrieben, in: Akat. Monster. Fantastische Bilderwelten zwischen Grauen und Komik, Nürnberg 2015, S. 90-103, bes. S. 101f.>; Morrall, Andrew, The power of nature and the agency of art. The Unicorn cup of Jan Vermeyen, in: Jurkowlaniec, Grażyna u. a., The agency of things in Medieval and early modern art. Materials, power and manipulation, New York 2018, S. 17-32; Lehnert, Katja, Das „Buch Lambspring“. Ein alchemisches Emblembuch von der illuminierten Handschrift bis zum Druck, überarbeitete Version der Masterarbeit an der Goethe-Universität Frankfurt 2019, Frankfurt 2023>; Schliephake, Kristofer, Die Inkorporierung der ikonografischen Bildtradition des Einhorns in die Alchemica illustrata des 17. Jahrhunderts, Bachelorarbeit an der Goethe-Universität Frankfurt 2023; Gannon, Corinna, Motivmigrationen und Bildtransmutationen. Von der Menagerie Kaiser Rudolfs ii. in Merians Alchemische Weltlandschaft, in: Wagner/Gannon 2024, S. 123-140

Endnoten
Endnoten
1 Vgl. Schliephake 2023. Ein kurzer Überblick bereits Helas 2015, S. 101f. Allgemein zu den Tieren in der Alchemie mit Beispielen zum Einhorn vgl. zuletzt Gannon 2024.
2 Vgl. Lambspring. Das ist: Ein herzlicher Teutscher Tractat vom Philosophischen Steine, in: Johannes Rhenanus (Hermannus Condeesyanus) (Hg.), Dyas chymica tripartita, Frankfurt: Lucas Jennis 1625, S. 92.
3 Vgl. Lehnert 2023, S. 14>.
4 Vgl. Ohlenschläger, Fabian: Annotationen zu Matthäus Merian d.Ä., Alchemische Weltlandschaft>.
5 Vgl. Einhorn 1998, S. 55.
6 Vgl. Tagliatesta 2007, S. 178.
7 Im Besonderen ist hier das Monokeros von Megasthenes (um 300 v. Chr.) zu nennen. Vgl. Einhorn 1998, S. 56f.
8 Vgl. ebd.
9 Vgl. Schönberger Physiologus. Griechisch/Deutsch 2001, S. 117.
10 Vgl. ebd., S. 39.
11 Vgl. Occulta Philosophia, Von den verborgenen Philosophischen Geheimnussen der heimlichen Goldblumen/ und Lapidis Philosophorum, was derselbige: und wie zu Erlangung dessen zu procediren/ außführlicher Bericht in einem Philosophischen Gespräch verfasset, Frankfurt: Johann Bringer 1613.
12 est autem Fermentatio animantis incorporatio […] est duplex, scilicet alba et rubea. (‚Darüber hinaus ist die Fermentation eine Aufnahme des lebenden Geistes […] sie geschieht zweimalig, nämlich in Weiß und Rot.‘ Übersetzung Christoph Chodorowski) vgl. Johannes Daniel Mylius, Philosophia reformata, Frankfurt: Lucas Jennis 1622, Buch 1, S. 127.
13 Vgl. Cherry 1997, S. 92.
14 So bspw. Gessner, Conrad, Historiæ animalium, Zürich 1551 oder Laurent Catelan, Histoire de la nature, chasse, vertus, propriétez et usage de la lycorne, Montpellier 1624. Die deutsche Übersetzung Ein schöner newer historischer Discurs von der natur, tugenden, eigenschafften, und gebrauch des einhorns, übersetzt nach Laurent Catelan, übersetzt von Georg Faber, Frankfurt am Main 1625 mit Illustrationen von Merian vgl. hier>.
15 Vgl. Morrall 2018.
16 Vgl. Helas 2015, S. 97; Morrall S. 27f.