Merian, Stammbucheintrag Stoltzenberg, 1624

Matthäus Merian d.Ä., Der Barmherzige Samariter, Emblematischer Eintrag in Daniel Stoltzius von Stoltzenbergs Stammbuch, 1622-1628, Basel, 2. Januar 1624, lavierte Federzeichnung, 110 x 140 mm, hier S. 452, Universitätsbibliothek Uppsala, Sign. Ms. Y 132 d

Im Januar 1624 hat sich Matthäus Merian in Basel in das Stammbuch des paracelsischen Arztes und Michael Maier-Schülers Daniel Stoltzius von Stoltzenberg (1600-1644)[1] eingetragen. Er gesellte sich damit zu angesehenen Ärzten, Gelehrten und zahlreichen berühmten Vertretern der hermetischen Naturphilosophie, trug sich aber – wohl standesgemäß – auf einem der letzten Blätter ein. Neben dem Engländer Robert Fludd und dem Niederländer Cornelius Drebbel war es ebenso der Frankfurter Verleger Lucas Jennis, der sich im Freundschaftsbuch verewigen durfte. Als einziger Maler hatte Philipp Uffenbach bereits 1622 einen Eintrag hinterlassen. Wie sein älterer Künstlerkollege verzichtete Merian auf die Illustration mit einer eingeklebten Radierung alchemistischen Inhalts und fügte seinerseits eine eigenhändige, lavierte Federzeichnung ein. Anders als etwa Fludd, der lediglich einen kurzen Sinnspruch hinterließ,[2] nahm sich Merian offenbar Zeit für seinen Eintrag.

Das ganzseitig gestaltete Stammbuchblatt folgt der Tradition emblematischer Kompositionen und setzt das auf Gott vertrauende französischsprachige Motto En Dieu mon espoirance[3] über die Pictura mit einer Kerngeschichte der Aufforderung zur Imitatio Christi. Als Anregung für die Zeichnung könnte eine Radierung mit dem Barmherzigen Samariter nach Hendrik Hondius d.Ä. (1573-1650) in Betracht kommen,[4] eingebettet in eine für Merian typische Landschaftsszenerie, die aufgrund des umherlaufenden Personals fast einem Landschaftspark ähnelt. Ein katholischer Bischof überquert die kleine Brücke, die das sich in die Landschaft hineinschlängelnde Flüsslein überspannt. Auch ein Gelehrter, der in seine aufgeschlagene Lektüre vertieft ist, hat den von Räubern Verwundeten unbeachtet gelassen und das Gebot der Nächstenliebe verletzt. Der Samariter ist im linken Vordergrund von seinem Reittier gestiegen, um endlich dem stark verletzten, am Boden liegenden Mann aufzuhelfen (Lukas 10, 30-33). In der Subscriptio verstärkt Merian das Gleichnis des Barmherzigen Samariters und hinterlässt die der Welt entsagenden Worte: Wer Gott dienen will, muß die Welt lan, Dan[n] niemandt zweien Herrn dienen kann. Weiterhin fügt er als Widmungsspruch hinzu Zu Ehre und gutter gedechtnis schreibt diß den 2. Jan 1624 in Basel Matthäus Merian burg[er] daselbst.

Der Eintrag erfolgte bereits zu Jahresbeginn 1624. In diesem Jahr verfasste der junge Student der Medizin Stoltzenberg, den Merian über Jennis kennengelernt haben muss, die tiefgründigen Distichen für die Stichfolge der Vier Tageszeiten.[5] Über das gemeinsame Projekt der Tageszeiten, dessen Herausgeber Peter Aubry war, müssen sich Arzt und Künstler offenbar besser kennengelernt haben, denn Merians Stammbucheintrag entbehrt der flüchtigen Attitude anderer Beiträger. Anders als man jedoch erwarten könnte, spielt Merian in seinem Eintrag offenbar bewusst nicht auf eine leichtverständliche alchemische Metapher an. Näherliegend ist, dass Merian auf eine ideale, nicht monetär dominierte Arzt-Patienten-Beziehung hingewiesen und Stoltzenberg in seiner Funktion als (künftiger) paracelsischer Arzt dargestellt hat. Dies würde freilich Kenntnisse der fundamentalen paracelsischen Leitmotive voraussetzen.

Paracelsus zählte die virtus und hierbei insbesondere Barmherzigkeit zu den vier Grundsäulen der Medizin und statuierte, dass der Arztberuf ein persönlich motiviertes, barmherziges Anliegen am Kranken voraussetzt. Er wies unter anderem im vielgelesenen Spital-Buch (1529) und ebenso in der Grossen Wundartzney (1536) auf die Rolle der Ärzte in der Nachfolge des Samariters hin und rief seine Kollegen auf, den Patienten mit Liebe und misericordia als dem höchsten Gut zu begegnen.[6] Denn wo keine Liebe ist, das ist keine (ärztlich-alchemistische) Kunst.[7] Zwei Wege gebe es, die Nachfolge der Priester und ‚galenischen‘ Leviten oder die Nachfolge des Samariters, der in den Himmel führe.[8] Barmherzigkeit – als Schulmeister der Ärzte – wird also zum Schlüssel des Arztberufs und gleichzeitig zur Einsicht in die Geheimnisse der Natur, insbesondere deren Anwendbarkeit im Bereich der Alchemie. Und in Summa: welcher will ein Arzt sein, derselbig gedenck, daß er am ersten ein Samariter sey, nit ein Priester, nicht ein Levit. So er nun ein Samariter ist, so wird ihm alles geben, was ihm noth wirt sein unnd nichts so heimlichs das ihm verborgen bleibt, der aber am ersten ein Levit / ein Priester sein will, dem wirdt nichts geben, dann alle unbarmherzigkeit, die dann in inen ist. Also wirds vergleicht.[9] Unter anderem war es der in Frankfurt publizierende Alchemoparacelsist Oswald Croll, der diese Leitsätze medizinisch-paracelsischer Ethik vom frommen Arzt in der Basilica Chymica weiterbreitete.[10]

Berit Wagner


Literatur

Hild 1991, S. 221, Abb. 5.31, S. 220; Wüthrich, Akat. Merian 1993, Kat. Nr. 84, S. 124f.; Wüthrich, Lucas Heinrich, Die großen Buchpublikationen II, Hamburg 1996, S. 687, Nr. 105, Abb. 97; Kühlmann, Wilhelm, Poeta, Chymicus, Mathematicus. Das Stammbuch des böhmischen Paracelsisten Daniel Stoltzius von Stoltzenberg, in: Kühlmann, Wilhelm, Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland, hg. von Joachim Telle, Friedrich Vollhardt und Hermann Wiegand, Tübingen 2006, S. 406-423, hier S. 415

Endnoten
  1. Figala, Eintrag Stoltzenberg, in: Priesner/Figala 1998, S. 348-351. Dort auch zu den Monaten in Basel ab Oktober 1623; Telle, Joachim, Eintrag Stoltzenberg, in: Deutsche Biographie 2013 vgl. https://www.deutsche-biographie.de/sfz127844.html.

  2. Eintrag des Robert Fludd in Daniel Stoltzius von Stoltzenbergs Stammbuch, 1622-1628, Universitätsbibliothek Uppsala, Ms. Y 132 d, fol. 297r.

  3. En Dieu mon espoirance war womöglich Merians Motto, da er bereits 1618 einen Stammbucheintrag von 1618 damit versehen hatte. Vgl. Wüthrich, Akat. Merian 1993, Kat. Nr. 43, S. 66f.

  4. Herausgeber war Philipp Galle. Vgl. ebd. Kat. Nr. 84, S. 124f.

  5. Wühtrich Bd. 1, 1966, Nr. 376-379; Wüthrich, Akat. Merian 1993, Kat. Nr. 62 und 116, S. 95-97 und S. 174f.

  6. Zum Spital-Buch siehe Peuckert, Will-Erich, Theophrastus Paracelsus, Hildesheim 1991, S. 206. Eine weitere Aufforderung zum Samaritertum des Arztes vgl. Paracelsus, Grosse Wundartzney, Augsburg: Steyner 1536, Vorred inn den Dritten Traktat, S. XLVr

  7. Weiterführend Schipperges, Heinrich, Die Entienlehre des Paracelsus: Aufbau und Umriß seiner Theoretischen Pathologie, Berlin 1988, S. 117-120. Zitat ebd., S. 119.

  8. Paracelsus, Etliche Tractat: I. Vn natürlichen Dingen, II. Beschreibung etlicher Kreuter, III. Von Metallen, IV Von Mineralen, V. Von Edlen Gesteinen, hg. von Michael Toxites (Michael Schütz), Straßburg: Christian Müllers Erben 1582, Vorrede Straßburg 1570, hier S. 184; siehe auch S. 185. Der gesamte Abschnitt Von dem Wesen Vitrioli in dem Leib- und Wundkranckheyten, S. 175-187 ist relevant.

  9. Paracelsus, Etliche Tractat: I. Von natürlichen Dingen, II. Beschreibung etlicher Kreuter, III. Von Metallen, IV Von Mineralen, V. Von Edlen Gesteinen, hg. von Michael Toxites (Michael Schütz), Straßburg: Christian Müllers Erben 1582, Vorrede Straßburg 1570, S. 186f. Siehe auch ebd. S. 182 mit Es wurd inen (den Ärzten in der Nachfolge des Samariters) auff emsige trew offenbar die heimligkeit der natur.

  10. Maruse, Amadeo, Paracelsismus und Chiliasmus im deutschsprachigen Raum um 1600, Heidelberg 2015, S. 47ff. Abschnitt 2.2.5. Ethik des naturkundlichen Arztes und Abschnitt Weisheitslehre: Crolls ärztliche Ethik des ‚Philosophus medicus‘, S. 208 mit zahlreichen Textbeispielen und weiteren Autoren.