Matthäus Merian d.Ä., Titelblatt für Michael Maier, Atalanta fugiens, hoc est, emblemata nova de secretis naturae chymica, Oppenheim: Johann Theodor de Bry 1618, UB Frankfurt, Sign. 8° P 5.75
Die Atalanta fugiens ist ein mythoalchemisches Emblembuch von Michael Maier (1568-1622), das erstmals 1617 und erneut 1618 in Zusammenarbeit mit dem Kupferstecher Matthäus Merian d.Ä. auf den Frankfurter Büchermarkt kam. Erst die Ausgabe von 1618 bietet das bekannte, von Matthäus Merian d.Ä. gestochene Porträt Maiers (im Frankfurter Exemplar nicht enthalten). Fraglos gehört Maiers Publikation zu den berühmtesten alchemischen Buchdrucken des 17. Jahrhunderts und darf als Musterbeispiel symbolischer Anspielungen und komplexer Vernetzungen in keiner Betrachtung der bebilderten Alchemie der Frühen Neuzeit fehlen. Wüthrich schrieb 1964 die Picturae – zurecht und heute allgemein anerkannt – Merian zu, nachdem man dieselben u.a. dem Verleger des Werks zugeschrieben worden waren.
Das ausgereifte Meisterwerk ist hauptsächlich in Latein verfasst und mit einigen kurzen deutschen Passagen versehen. Es umfasst 50 Kapitel, die jeweils eine Fugenseite mit einer gegenüberliegenden Emblemseite, sowie einen angehängten Diskurs (je zwei ‚Diskussionsseiten‘) umfassen. Maier verwandte nicht nur die übliche Kombination aus Text und Bild, sondern auch Ton, in Form der Fugen, um alchemistische Prozesse und Vorgehen zu beschreiben. Dieses Verfahren brachte der Atalanta fugiens den Ruf ein, eines der ersten Multimedia-Kunstwerke der Frühen Neuzeit zu sein, was sicherlich zu den Gründen für das anhaltende wissenschaftliche Interesse zählt. Neuerdings ist eine digitale Edition verfügbar, die im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojektes wissenschaftlich kommentiert und musikalisch umgesetzt wurde. Das Frankfurter Exemplar entstammt der Bibliothek des an Alchemie interessierten Johann Christian Senckenberg (1707-1772) und ist in einem Sammelband aus insgesamt vier Traktaten enthalten. Darunter befindet sich ein weiteres Werk von Michael Maier, Septimana philosophica, qua aenigmata avreola de omni naturae genere (Frankfurt: Lucas Jennis 1620, Titelblatt von Balthasar Schwan, Abb.>),[1] in welchem Maiers Autorenporträt von 1618 eingebunden ist.
Das Titelblatt der Atalanta fugiens besteht aus der rechteckig eingefassten Titelei mit einigen einleitenden Worten und Informationen über Autor, Drucker und Verleger, gerahmt von radierten Szenen des Mythos der für dieses Werk namensgebenden Atalanta. Atalanta ist, nach Ovids Metamorphosen, eine Jägerin, die schwor, nur jenen Mann zu ehelichen, der sie in einem Wettlauf besiegen könne; die Verlierer wurden getötet. Der Jüngling Hippomenes erhielt von der Göttin Aphrodite (Venus) drei goldene Äpfel mit der Anweisung, diese während des Wettlaufs einzeln fallen zu lassen, da Atalanta nicht wiederstehen könnte, sie aufzusammeln. Diesem Rat folgend gewann Hippomenes das Rennen gegen Atalanta, doch anstatt Aphrodite gebührend zu danken, schändeten die zwei einen Kybele-Tempel, woraufhin sie als Strafe in zwei rote Löwen verwandelt wurden. Im Kontrast zu anderen Titelblättern fällt die Synchronität der Handlungen ins Betrachterauge, da Merian nicht wie meist üblich das Geschehen in Medaillonabfolgen oder architektonische Rahmungen unterteilt, sondern alle figuralen Szenen in einem gemeinsamen Bildraum in dynamische Aktion bringt. Während die Simultanszenen zumeist aus dem Mythos der Atalanta stammen, werden zwei weitere Szenen hinzugefügt, die nicht Teil des Mythos sind: Am oberen Rand findet sich die Darstellung der Hesperiden in ihrem Garten mit dem hundertköpfigen Drachen Ladon, der die goldenen Äpfel bewacht, sowie am linken Bildrand Herkules, der sich dem Garten nähert, um eben diese zu stehlen.
Das Titelblatt der Atalanta fugiens bietet ein breites Spektrum an Motiven und Interpretationsansätzen und eröffnet einen eindrucksvollen Einstieg in ein Hauptwerk des alchemischen Zeitalters. Bei der an ein Altarblatt erinnernden Bildkomposition handelt es sich nicht nur um die prozesshafte Darstellung der mythischen Geschichte der Atalanta, sondern – in Kombination mit der Texttafel – gleichfalls um einen Verweis und Interpretationshinweis auf den Aufbau und Inhalt der folgenden Seiten. So geben beispielsweise die aufeinander folgenden Stimmen der im Werk enthaltenen 50 Fugen den von Merian illustrierten Wettlauf Atalantas mit Hippomenes in musikalischer Form wieder. Die von Merian auf dem Titelblatt gezeigten Simultanszenen bieten zudem bereits einen ersten Darstellungsansatz des im Werk behandelten Prozesses zur Herstellung des Steins der Weisen. Von Atalanta als ‚Ausgangsprodukt‘ über Hippomenes, der durch das Fallenlassen der Äpfel Atalantas Veränderung herbeiführt bis zur Vereinigung und Transformation im Tempel der Kybele, den man als Hermetisches Gefäß deuten kann, sind hier verschiedene Stufen des Wandlungsprozesses zu sehen.
Jennifer Haase (2021)
Literatur (insbesondere zum Titelblatt)
Wüthrich Bd. 2, 1972, Nr. 69, S. 84-86, Abb. 49; VD17 23:263850V
Wüthrich 1964, S. 8; De Jong 1969; Putscher 1983, S. 17-50; Meinel 1986, S. 201-227; Klossowski de Rola 1988, S. 68-104; Neugebauer 1993, S. 297f.; Szőnyi 2003; Biedermann 2006, S. 106-125; Wüthrich 2007, S. 92; Dekker 2010, S. 54; Werthmann/Gebelein 2011; Völlnagel 2012, S. 9-16; Willard 2017; Bilak/Nummedal 2020; https://furnaceandfugue.org/
Allgemein siehe auch die Vorträge: Forshaw, Peter, Infinite Fire Webinar II – The Emblemata of the Atalanta Fugiens, Ritman Library and the Center for the History of Hermetic Philosophy and Related Currents (GHF) of the University of Amsterdam 2012 oder Nummedal, Tara, Word/Image/Text: Reading for the Philosophers’ Stone in Atalanta fugiens, Brown University 2016
Online-Exemplar UB Frankfurt (Exlibris: Ad Bibliothecam Instituti Medici Senckenbergiani)
Endnoten
- Klossowski de Rola 1988, S. 162-166. Weitere Online-Version z.B. Getty Research Institute ↑