Merian, Kopflandschaft

Matthäus Merian d.Ä., Anthropomorphe Halbinsel (Kopflandschaft), Radierung, zwischen 1620 und 1623/4 verlegt von Peter Aubry, unten links signiert MMerian fec., unten links P. Aub. Ex., Herzog Anton Ulrich Museum, Braunschweig, Inv. Nr. MMerian WB 3.121

Anthropomorphe Landschaftsbilder sind Bildkompositionen mit gemalten oder gezeichneten Naturszenerien, die beispielsweise spätestens durch eine 90 Grad-Wendung menschliche Formen erkennen lassen. Ein anthropomorphes Bildnis ist mehrdeutig, abstrakt und teilweise mystisch. Unterschiedliche Perspektiven geben dem Betrachter verschiedene Eindrücke und Vorstellungen. In Anthropomorphismus können Verzerrungen und Korrekturen sowie Verschiebungen zwischen Abstraktion und Repräsentation absichtlich manipuliert werden. So wird beispielsweise die Illusion von dreidimensionalen Körpern auf zweidimensionalen Oberflächen erzeugt. Die Künstler der Frühen Neuzeit, insbesondere die Manieristen, haben mehrfach versucht, Porträts aus Landschaftsbildern zu komponieren.

Auch Matthäus Merian d.Ä. hat sich diesem Thema gewidmet und sogar eine Reihe von ihm zugeschriebenen Gemälden mit Kopflandschaften hervorgebracht (vgl. z.B. Abb.>). Ein bekanntes, eindeutig von seiner Hand stammendes anthropomorphes Landschaftsbild, eine Radierung, ist die Anthropomorphe Halbinsel oder Kopflandschaft, die der Straßburger Verleger und Kupferstecher Peter Aubry (1596-1666) herausgab. Sie zeigt einen kantigen Felsvorsprung, der sich aus einem Gewässer erhebt. Die Gebäude, die Bäume und die Figuren auf dem Hügel wurden mit der sorgfältigen Absicht positioniert, dass das Bild alternativ als ein riesiger, im Profil liegender, horizontal ausgerichteter Kopf gelesen werden kann. Merian schafft einen Bezugspunkt durch ein eng gefasstes Areal reiner Landschaft: In der unteren rechten Ecke des Bildes befindet sich einen Hügel mit hohen Bäumen und einem sitzenden Fischer, dessen Körper perspektivisch größer als die Figuren auf dem Hügel gezeigt wird. Sein winziges Profil, das sich gegenüber einer Stützmauer abhebt, lässt den massiven Hügelkopf noch gigantischer erscheinen.

Die Halbinsel, die den Kopf bildet, erstreckt sich links in den See. Der Kopf wird von einer Wand verankert, die zur Kontur des Halses wird, während eine halbkreisförmige Projektion mit einem Steg oder einer Aussichtsplattform ein riesiges Ohr bildet. Eine kleine Figur lehnt sich aus diesem Bereich heraus und zieht an einer Leine, während eine andere Figur im Wasser darunter in einem Boot rudert. Der Umriss des Kopfes materialisiert sich aus einer Kombination von Felsvorsprüngen und Laub, deren Formen Hinweise auf Haare, Augenbrauen, Schnurrbart und Backenbart darstellen. Eine quadratische Burgruine steht für die Nase und ein kleines Häuschen mit Spitzdach für die Oberlippe.

Es hängt allein vom Betrachter ab, ob er zuerst die Silhouette einer Landschaft oder ein menschliches Gesicht erkennt. Je länger man sich mit dem Bild in der Nahsicht beschäftigt, desto mehr narrative Details fallen ins Auge. So sind auf der Halbinsel folgende Einzelszenen zu beobachten: Ein winziger Bauer und sein Pferdegespann pflügen auf dem Stirnfeld des anthropomorphen Kopfes, ein Jäger zielt mit seinem Gewehr auf eine runde Zielscheibe – die das Auge bildet –, und während sich auf der Halsweide zwei Bauern und ein schlafender Mann aufhalten, jagt ein Fuchs einen Hasen, der rechts aus dem Bild flüchtet.

In der anthropomorphen Landschaft Merians werden Natur und Kunst in ein enges Verhältnis zueinander gesetzt: natürliche Gesteinsformation und menschliches Bild sind – obwohl voneinander getrennt – komplementäre Entsprechungen. Wenngleich Merian nicht der Erfinder der anthropomorphen Landschaftsbilder ist, zeigt die mannigfaltige Rezeption seiner Bildidee, etwa durch Wenzel Hollar (1607-1677) oder Athanasius Kircher (1602-1680), deren künstlerische Bedeutung für dieses Sujet. Kircher illustrierte 1646 mit Merians Kopflandschaft seine theoretischen Überlegungen zu Naturbildern im Abschnitt Campus Anthropomorphus – Von Mensch und Natur geformte Bilder als Teil seines Meisterwerks Ars magna lucis et umbrae (Abb.>). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die auffällige Zugabe von über den gesamten Himmel verteilten Vögeln.

Wen Jin (2021)


Literatur

Wüthrich, Bd. 1, 1966, Nr. 576, S. 154f. (Stichfolge von insgesamt 6 Radierungen Nr. 571-576)

Baltrušaitis, Jurgis, Anamorphoses ou perspectives curieuses, Paris 1955, S. 49-52; Bredekamp 1981, S. 5-37; Kuretsky 2006; Wüthrich 2007, S. 108f.; Holländer, Hans, Chiffren und Figuren. Über die „vis plastica“ des Zufalls und der Imagination, in: Ludi naturae, 2011, S. 79-101.

Ferner

Felfe, Robert 2013; Melion, Walter S. (Hg.), The anthropomorphic lens: anthropomorphism, microcosmism and analogy in early modern thought and visual arts, Leiden 2015.