Merian, Atalanta fugiens, Emblem XLII, Natura

Matthäus Merian d.Ä., Emblem XLII. In Chymicis versanti natura, ratio, experientia & lectio, sint dux, scipio, perspicilia, & lampas, für Michael Maier, Atalanta fugiens, Oppenheim: Johann Theodor de Bry 1618, S. 177, UB Frankfurt, Sign. 8° P 5.75

Das Emblem XLII stellt eines der zentralen und in seiner Bedeutung zur Beschäftigung mit der Alchemie ganzheitlichsten in der Atalanta fugiens dar. Es zeigt die Personifikation der Natura, die einen nächtlichen Pfad entlangschreitet und ihre Fußspuren auf dem Weg hinterlässt. In der rechten Hand hält sie Blumen, in der linken verschiedene Früchte. Als Vorlage für die jugendliche Schönheit mit luftig flatterndem Gewand diente Merian einmal mehr Antonio Tempestas Bildserie der ovidschen Metamorphosen von 1606 (hier Ausgabe Amsterdam: Willem Jansz Blaeu, nach 1606, Abb.>). Ausgerechnet die gerade mit einer Zauberei beschäftigte Circe (Nr. 136) wurde vom Künstler zu einer geheimnisvollen, vom Mond beschienenen Personifikation der Naturtransformiert.

Hinter Natura, deren Fußspuren folgend, ist ein alter Mann mit Brille, Laterne und Stock zu sehen. In der Ausgabe der Atalanta fugiens von 1618 lautet das Motto zur Fuge: Dem / der in Chymicis versiret, sey die Natur / Vernunfft / Erfahrenheit und Lesen / wie ein Führer / Stab / Bryllen und Lampen.[1] Das Epigramm und der Diskurs geben Natura als Führerin zu erkennen, welcher der Alchemist folgen soll. Der Mann, der im wahrsten Sinne des Wortes auf ihren Spuren wandelt, wird als Erforscher der Natur bzw. Adept der Alchemie charakterisiert. Die drei Attribute, die er bei sich trägt, sollen ihm dabei als Mittel der Erkenntnis dienen. So steht der Wanderstock für die Vernunft (oder auch ratio und experentia), die Brille dient ihm dazu, die Spuren der Natur erkennen zu können, und die Lampe, die ihm den Weg weist, steht als Sinnbild für die Lektüre.[2] Ein in der Chymie begieriger Wandersmann[3] habe sich laut Diskurs bei seiner Observation an vier Punkten zu orientieren: der Natur, der Vernunft, der Erfahrung und den philosophischen Büchern und Schriften. Sollte es an einem dieser vier Grundpfeiler mangeln, so sei die Arbeit umsonst und vergebens.[4] Die primäre Absicht des Alchemisten, so Maier, sollte sein, durch eindringliche Beschäftigung und Lektüre herauszufinden, wie die Natur in ihren Operationen vorgeht.[5] Die Natur soll dem Alchemisten als Vorbild dienen und lädt ihn dazu ein, ihrem Beispiel zu folgen. Während die Natur aus sich selbst heraus agiere, führe das menschliche Handeln über den Umweg der Erkenntnis der Ursachen der Naturerscheinungen.[6] Dies war ein Hauptthema der mittelalterlichen alchemistischen Literatur und wurde u.a. durch die Lehren des Aristoteles unterstrichen, der die Alchemie oder auch die ‚Kunst‘ als das Mittel beschreibt, das zu vollenden vermag, wozu die Natur nicht imstande ist, und wird später durch den paracelsischen Schwerpunkt von Beobachtung und Experiment unterstrichen.[7]

Bei genauerer Betrachtung des Sinnbildes wird anhand der Fußspuren sichtbar, dass der alte Mann genau sieben Schritte hinter der Natura geht. Dies kann laut Van Heertum und Bouman ein direkter Hinweis auf die sieben alchemistischen Stufen und die sieben Schöpfungstage sein.[8] Nach De Jong gibt es für die Darstellungsweise dieses Emblems bzw. Mottos keine grundlegenden Quellen aus der alchemistischen Literatur oder Emblematik.[9] Laut Modersohn und Schott kann jedoch eine Miniatur des französischen Hofmalers Jean Perréal von 1516 (Abb.>)[10] und seine Schrift La Complainte de la Nature à l’alchemiste errant, in der Natura über den irrenden Alchemisten klagt, als Quelle oder Vorbild für Maiers Ausführungen und somit für Merians Radierung gedient haben.[11] Die Miniatur zeigt einen Alchemisten im Dialog mit der Natur.[12] Irreführend Johann de Mehung – Jean de Meung, Verfasser der alchemischen Passagen des Roman de la Rose[13] – zugeschrieben, wurde die dazugehörige Schrift unter anderem 1625 in das bei Lucas Jennis publizierte Musaeum hermeticum[14] aufgenommen.

Nach Priesner und Figala können die Bildgebung und die Bedeutung des Emblems zudem als Metapher für die Arbeit und das Studium des Alchemisten in seinem Laboratorium verstanden werden. Das Ziel des Alchemisten ist es, die Prozesse der Natur, die er durch sein intensives Studium verinnerlicht hat, zu verstehen und in seinem Labor zu wiederholen.[15] Nach Priesner und Figala, Lyndy und Bauer wird durch die Natura in gewissem Sinne auch die Prima materia selbst versinnbildlicht. So beschrieb Pierre-Jean Fabre im 17. Jahrhundert den Lapis philosophorum als metallische Saat in der Natur existent, entstanden unter Hitzeeinfluss in den Adern der Berge mit der Natura als Ausgangspunkt.

Als Abschluss seines Diskurses zu Emblem XLII verkündet Maier eine Mahnung an den Alchemisten. Derjenige, der die Geheimnisse der Natur ergründen will, solle sich nicht von dem trügerischen Gedanken leiten lassen, das Wissen mit einem Blick in das Buch und in aller Kürze zu erlangen. Nur „wer langmütig ist und sich gerne geduldet wird auf rechten Wegen wandeln“[16] und sein Ziel sicher und gefahrlos erreichen.[17] In Maiers Examen fucorum von 1617,[18] einer Schrift, die die Betrügerei der falschen Goldmacher und die Scharlatane unter den Alchemisten aufdecken soll, stellt er nach Wels bereits ein Bildungsideal heraus, das er im Emblem XLII nochmals verfestigt und das die Gefahren des (Selbst-)Betrugs durch ein fehlendes oder zu oberflächliches Studium unterstreicht. Maiers Ansatz ist stark humanistisch geprägt und fordert auch hier bereits eine gründliche Ausbildung in Grammatik, Rhetorik, Poetik und Logik als notwendige Voraussetzung der Beschäftigung mit der Alchemie und der Erforschung der Natur.[19] Ergänzend zu dieser Ermahnung und diesen Kreis schließend kann nochmals auf die Klageschrift der Natura an den irrenden Alchemisten verwiesen werden, in der die Natura den Alchemisten ermahnt, durch das Studium ihrer Tätigkeit mit ihr im Einklang zu bleiben oder gar zur Zerstörung der Natur beizutragen.

Sonja Gehrisch (2021)

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Literatur

Wüthrich Bd. 2, 1972, Nr. 69, S. 84-86; VD17 23:263850V

Wüthrich 1964; De Jong 1969, S. 266-268; Modersohn 1997, S. 178; Veldman 2001, S. 78; Tilton 2003, S. 239; Dekker 2010, bes. S. 25f.; Werthmann/Gebelein 2011; Bauer 2012, S. 120f.; Willard 2017; Van Heertum,/Bouman 2019; Bilak/Nummedal 2020 https://furnaceandfugue.org/atalanta-fugiens/emblem42.html

Online-Exemplar UB Frankfurt (Exlibris: Ad Bibliothecam Instituti Medici Senckenbergiani)

Endnoten
  1. Maier, Michael, Atalanta fugiens, hoc est Emblemata Nova de Secretis Naturae, Oppenheim: Johann Theodor de Bry 1618, S. 176.

  2. Ebd., S. 176: Dein Führerin die Natur sey / welch’r du must folgen von weiten / Williglich / anderst du irrst / wo sie dich nicht thut leyten / Die Vernunft sey dein Stab / und es muß stärcken die Erfahrenheit Dein Gesicht / daß du könnst sehen / was gelegt ist weit und breit / Das Lesen sey wie ein Lamp in finstern leuchtend hell und klar / Dadurch du mögst verhüten der Sachn und Wörter Gefahr.

  3. Ebd., S. 178.

  4. Ebd., S. 178: Eodem modo si quis difficilimo se committatitineri, ut Medicinam Philosophicam indaget, praeter sumptus & corporis robur, quaterna desiderabitante dictis paralela & correspondetia ex aequo, videlicet Naturam, Rationem, Experientiam & Lectionem: quorum si unum aut alterum defuerit, reliqua parum aut nihil juvabunt.

  5. Vgl. Tilton 2003, S. 239; Bauer 2012 stellt an dieser Stelle die Wichtigkeit des Lesens und des Studiums und den Bezug Maiers zum Mutus liber heraus, dieses ist jedoch in seiner Erstausgabe erst 1677 erschienen und kann Maier somit nicht bekannt gewesen sein. Vgl. ebd., S. 120f.

  6. Priesner/Figala 1998, S. 250f.

  7. Vgl. Classen, Albrecht, Astrologie, Fortuna und Schicksalsglaube im 16. Jahrhundert. Der Beitrag von Paracelsus zu einem mentalitätsgeschichtlichen Diskurs, in: Classen 2010, S. 47–64, hier S. 62.

  8. Vgl. Van Heertum,/Bouman 2019, vgl. https://embassyofthefreemind.com/en/library/202-emblems-in-print-and-paint-atalanta-fugiens.

  9. Vgl. De Jong 1969, S. 268.

  10. (La Complainte de Nature à l’Alchimiste errant) L’Alchimiste, Miniaturmalerei, 1516, 18,1 x 13,4 cm, Musée Marmottan Monet, Paris, Collection Wildenstein, Inv. Nr. M-6188, https://www.marmottan.fr/notice/M-6188.

  11. Perréal, Jean, La Complainte de Nature à l’alchimiste errant wurde in Frankfurt unter dem Namen Johann von Mesung publiziert als Beweiß der Natur welchen sie den irrenden Alchimisten thut, indeme sie sich uber den Sophisten und thoerichten Kohlenblaser beschweret, in: Wasserstein der Weysen, das ist, ein Chymisch Tractätlein […] Darbey auch zwey nutzliche andere Büchlein der Gleichformigkeit und Concordantz wegen angehenckt, Nemlich I. Iohann von Mesung, Frankfurt: Lucas Jennis 1619, S. 156ff. (Online-Ansicht der Stiftung der Werke von C.G. Jung siehe https://doi.org/10.3931/e-rara-8968). Vgl. Lennep 1966, S. 253ff.

  12. Modersohn 1997, S. 173ff.; Schott, Heinz, Blinder Fleck oder Projektionsfigur? Paracelsus und der medizinische Pluralismus heute, in: Classen 2010, S. 217-228, hier S. 224: „Die Krone der Natur zeigt die Zeichen der sieben Metalle, die Äste des Baumes symbolisieren die vier Elemente, die sich in der Mitte kreuzen (mixtio), die drei Baumwurzeln repräsentieren die drei Reiche der Natur (mineralia, vegetative, sensitiva), im Baumstamm befindet sich der Ofen der Natur. Dieses Opus Naturae steht im Gegensatz zum Opus Mechanice. Der Alchemist soll sein Laboratorium verlassen und in ihrem Reich lernen, dem ursprünglichen Reich der Alchemie, symbolisiert durch den Baum, der aus den drei Wurzeln Mineralia, Vegetabilia und Sensitiva wachse. Die natürliche Scheidekunst, das opus naturae, führe zur obersten Blüte des Elixiers, das als ,vegetabiles Gold‘ sublimiert werde.“

  13. Zu Jean de Meung als alchemistischem Autor siehe Didier Kahn: Jean de Meun, in: Priesner/Figala 1998, S. 183ff.

  14. Johann de Mehung, Demonstratio Naturae, quam errantibus Chymicus facit, in: Musaeum hermeticum, Frankfurt: Lucas Jennis 1625, Traktat IV, S. 196ff. mit dem nochmals verwendeten Titelkupfer von Balthasar Schwan für Mylius, Philosophia Reformata, 1622.

  15. Priesner/Figala 1998, S. 250f.

  16. Maier 1618, S. 179.

  17. Modersohn 1997, S. 178.

  18. Vgl. Michael Maier, Examen Fucorum Pseudo-Chymicorum Detectorum Et In Gratiam Veritatis Amantium succincte refutatorum, Frankfurt am Main 1617.

  19. Wels 2010, S. 158.